(Young Alexander together with his widowed mother; unknown artist; ca. 1780 – Source: Wikimedia commons)

Alexander von Humboldt: Naturforschung aus dem Geist der Kameralistik

Der Reisende und Naturforscher Alexander von Humboldt erlebt gegenwärtig eine Renaissance und wird uns als moderner über Fächergrenzen hinweg ganzheitlicher Denker vorgestellt. Trotz Ihrer Zeitgenossenschaft war er jedoch ein scharfer Kritiker der Naturphilosophie Hegels und mit Ausnahme eines Aufsatzes in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift „Die Horen“ kein Romantiker. Meine These, die ich hier zu belegen versuche ist daher, daß er wesentlich aufgrund seiner Ausbildung in den Kameralwissenschaften eher einem vorindustriellen universellen Naturverständnis anhing als einer Idee moderner Transdisziplinarität.

Am 14. September 1769 wurde Alexander von Humboldt geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters oblag seine Erziehung allein der Mutter. Es war ihr Wunsch, daß Alexander einmal die Stellung seines Vaters am königlichen Hof einnehmen sollte, der Kammerherr des Prinzen von Preussen gewesen war. Das bedeutete nach einer anfänglichen Erziehung des Knaben durch eine Reihe Privatlehrer ein Studium der Kameralwissenschaften, um sich zum Eintritt in den Staatsdienst auszubilden. Die Cameralia waren eine überwiegend in den deutschsprachigen Ländern herrschende Wissenschaft. Ihre Vertreter „were both consultants and administrators. They were consultants to the various kings, princes, and other royal personages who ruled throughout those lands. Indeed, the term cameralist derives from camera or kammer, and refers to the room or chamber where the councellors to the king or prince gathered to do their work. The cameralists were not, however, anything like contemporary academic consultants. They were real-world administrators as well. They were engaged in such activities as managing mines or glass works. Many of the cameralists also held academic posts. The first chairs of cameral science were established in 1727, in Halle and Frankfurt on the Oder, and by the end of the 18th century 23 such chairs had been established.“ (Wagner, 2012) Allerdings stand die Kameralistik nicht überall in gutem Ruf: doch selbst aus einer vielleicht auch zu negativen Kritik ist noch das weite Feld, der von ihr behandelten Gegenstände, herauszuhören „Man lehrt den Anschlag einer Branntweinbrennerei, Theerhütte, einer Grützmühle machen, man lehrt, wie viele Fäden Leinwand und Taffet im Aufzuge und Einschlag haben müssen, man lehrt, wie Käse gemacht und Eisen geschmolzen wird, wie man Raupen und Maikäfer vertreibt; aber man hat noch keine Ahnung von höhern staatswissenschaftlichen Principien.“ (Bruhns, 1872) Ist für die Kritiker der letzte Punkt das größte Manko, weckten bei dem schon in Berlin mit Naturstudien befassten jungen Humboldt gerade „die Raupen und Maikäfer“ das größte Interesse. Nach einem kurzen Studienaufenthalt an der alma Viadrina in Frankfurt a. O. zog es ihn deshalb an die damals fortschrittlichste deutsche Universität in Göttingen.

Studium an der Georg-August-Universität

Erst 1734 im Geist der Aufklärung gegründet lehrten dort von der theologischen Zensur befreit eine Reihe namhafter Professoren. Darunter der Ökonom Johann Beckmann (1739 – 1811), der in seinen Vorlesungen ganz im praktischen Sinne der Kameralistik den Weg einer Ware vom Rohstoff über die Produktion bis zum Verkauf behandelte. Mit den Worten eines späteren Kritikers „präsentirte bei seinem Hauptcollegium den jungen Cameralisten noch Herbarien von Erbsen, Zwiebeln, Rettig, Rüben und den gewöhnlichsten Gemüsen. Nicht viel instructiver waren auch seine Collegia und Demonstrationen über Mineralogie, Technologie und Waarenkunde.“ (Bruhns, 1872) Weniger voreingenommen zeigt sich, daß dieser, ebenfalls der Verfasser eines „Grundriß zu Vorlesungen über die Naturlehre“, dabei genau den Vorgaben seiner Wissenschaft folgte. Im Curriculum einer 1774 in Lautern (Kaiserslautern) geplanten „ökonomischen und Kameralschule“ ist zu lesen

„Erstes halbes Jahr. – Winter
1) Philosophie
2) Reine Mathematik
3) Naturlehre
4) Naturgeschichte, und zwar das Thierreich und Mineralreich

Zweites halbes Jahr. – Sommer
5) Angewandte Mathematik
6) Chemie
7) Naturgeschichte, und zwar die Kräuterlehre
8) Landwirtschaft

Drittes halbes Jahr. – Winter
9) Gewerke, Manufaktur- und Fabrikwesen
10) Handlungswissenschaft
11) Polizeiwissenschaft

Viertes halbes Jahr. – Sommer
12) Finanzwissenschaft
13) Staatswissenschaft
14) Anleitung zu gelehrten Reisen“ (o. Verf., 1774)

Der praktischen Anschauung in der Ökonomie, die im wesentlichen eine Landwirtschaftslehre war, diente in Göttingen ein von Beckmann angelegter ökonomischer Garten, wie er ihn bei Carl von Linné (1707 – 1778) in Schweden kennengelernt hatte. Während des Sommersemesters hielt er dort eine wöchentliche Vorlesung, in der er die im Kolleg besprochenen Pflanzen „selbst die schlimmsten Unkräuter“ vorstellte. Bedenkt man ferner, daß Humboldt an der Georgia des weiteren die Möglichkeit hatte in ihrem Fach so bekannte Persönlichkeiten wie den Experimentalphysiker Georg Lichtenberg (1742 – 1799) oder Johann Friedrich Blumenbach (1752 – 1840) Professor für Medizin und Naturgeschichte zu hören, kann man einen gewissen Eindruck vom Umfang seiner Studien gewinnen. So fielen in diese Zeit seine ersten Beschäftigungen zu mineralogischen Themen, die Humboldt wenig später veranlassten sich bei dem berühmten Mineralogen und Bergwerkskundigen Abraham Gottlieb Werner (1749 – 1817) in Freiberg zur „Vollendung seiner wissenschaftlichen Bildung“ um eine Stelle zu bewerben.

An der Bergakademie Freiberg

Der Bergbau, oder genauer das Bergwerk, stellte in der Frühen Neuzeit bis in die Epoche der Aufklärung ein riesiges Versuchslabor für die Begegnung des europäischen Menschen mit der Natur dar. Schon früh im 15. Jahrhundert setzte eine Kapitalisierung der Produktionsverhältnisse ein, mit all ihren Begleiterscheinungen der Auflösung der noch mittelalterlichen kooperativen Zusammenschlüsse, einer zunehmenden Mechanisierung und Arbeitsteilung. Zugleich wurden die überkommenen mythischen Vorstellungen eines im mütterlichen Schoß der Erde, von allerlei Berggeistern sorgsam gehüteten mineralischen Schatzes zugunsten der Auffassung letztlich unbeschränkt abbaubarer Ressourcen zurückgedrängt. Im 18. Jahrhundert erfolgte im landesherrschaftlichen Interesse einer höheren Rentabilität der vermehrte Einsatz wissenschaftsbegleiteter Technik. (Böhme, 1988) 1765 entstand in Freiberg (Sachsen) wo schon seit 1168 Silber abgebaut worden ist, eine der ersten technischen Hochschulen der Welt, an deren Spitze Werner, der als gefeierter Mineraloge zugleich ein Begründer dieser Wissenschaft war. Nach seiner eigenen Auffassung Vertreter einer universellen traditionellen Naturgeschichte, bereitete er mit seiner geognostischen Geographie den Boden für die industrielle Ausbeutung der Bodenschätze Sachsens im 19. Jh.. Humboldt hat noch in späteren Lebensjahren bekannt vor allem diesem „umfassenden, ordnenden Geiste Werner’s“ „einen wichtigen Teil seiner Bildung und die Richtung seiner Bestrebungen“ zu verdanken. In diesem Geiste, der zur gleichen Zeit einen beträchtlichen Einfluß auf die aufkeimende Naturphilosophie der Frühromantik ausübte, weitete Humboldt seine Forschungen über die reine Mineralogie und Bergkunde hinaus. So stellte er physiologische „Versuche und Beobachtungen über die grüne Farbe unterirdischer Vegetabilien“ an und es entstanden die Vorarbeiten zu seiner „Flora subterranea Fribergensis“. Sein Blick wurde global, er arbeitete an einem geognostischen Werk mit dem Titel „Ueber die Construction des Erdkörpers im mittleren Europa, besonders über Schichtung und Lagerung der Gebirgsmassen“ und eng damit verbunden reiften seine Pläne für eine größere Reise.

Die Expedition nach Amerika

Erst nach dem Tod der Mutter ermöglichte sein Erbteil, Humboldt diesen langgehegten Wunsch zu verwirklichen. Mit seinem Freund dem Botaniker Aimé Goujaud Bonpland (1773 – 1858) trat er eine fünfjährige Reise auf den amerikanischen Kontinent an. Bald nach seiner Rückkehr nach Europa faßte er den Entschluß die wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise in einem umfangreichen Werkkonvolut der Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent zu veröffentlichen; und zwar in Paris. Diese Stadt war während seiner Abwesenheit „unbestritten die Hochschule der exacten, insbesondere der Naturwissenschaften geworden“ (Bruhns, 1872) und Frankreich das wissenschaftliche Zentrum Europas. (Stichweh, 1977) Die Förderung der (Natur)wissenschaften durch den napoleonischen Staat bewirkte durch ihre Abkehr vom bisherigen Amateurstatus des Wissenschaftlers eine Professionalisierung und führte zur Ausdifferenzierung der Fachdisziplinen. So entließ die traditionelle rein beschreibende Naturgeschichte des Tier-. Pflanzen- und Mineralreichs zum einen die Biologie als neue Wissenschaft des Lebendigen unter besonderer Betonung der Vergleichenden Anatomie zum anderen entpuppte sich das alte Teilgebiet die Mineralogie zu einem eigenständigen Fach Geologie. Humboldt trug dem bei der Herausgabe des Reisewerks, insofern Rechnung, als er das umfangreiche und breitgefächerte Forschungsmaterial durch verschiedene ihm bekannte Spezialisten bearbeiten ließ. Deshalb gingen die gesammelten Gesteinsproben an den Leiter des Königlichen Mineralienkabinetts Dietrich Ludwig Gustav Karsten (1768 – 1810) in Berlin.
Von den 60.000 herbarisierten Pflanzen-Specimina überließ er die Hälfte zur Bearbeitung Bonpland. Nachdem dieser durch seine Eigenschaft als Intendant des Gartens von Malmaison zu sehr in Anspruch genommen wurde, zog er zuerst Carl Ludwig Willdenow (1765 – 1812) und nach dessen Erkrankung dessen Schüler Carl Sigismund Kunth (1788 – 1850) zur Aufgabe der Diagnose heran. Weitere Exemplare verschickte er zur Beschreibung an eine Reihe bekannter britischer und französischer Botaniker.
Die astronomischen Teile des Reisewerks wurden dem Berliner Mathematiker Jabbo Oltmanns (1783 -1833) zur Redaktion übertragen.
Humboldt selbst plante einen Band „Geographie der Pflanzen“ ganz im alten synthetischen Sinne der drei Naturreiche, die er in einem Brief an den Verleger Georg von Cotta zu seinen “wichtigsten und eigentümlichsten Arbeiten“ zählte. Ganz besonders lag ihm außerdem an der Veröffentlichung seiner „Ansichten der Natur“, die außerhalb des Reisekonvoluts erscheinen sollten und die er gar als sein „Lieblingswerk“ bezeichnete. Hier sollte seine „ästhetische Wissenschaft“, mit der er anstrebte die Verschiedenartigkeit der Naturerscheinungen zu einer Ganzheit zusammenzufassen, einen vorläufigen Höhepunkt erreichen.

Rückkehr in sich wandelnde Verhältnisse – wieder in Berlin

1810 hatte die vom preußischen König gegründete Berliner Universität den Lehrbetrieb aufgenommen. Anfangs noch ganz dem Fächerkanon des 18. Jh.s. verhaftet, Schwerpunkt blieb zunächst die philosophische Fakultät, begann sich dieser in den Folgejahren in Richtung der uns heute gewohnten Einteilung der wissenschaftlichen Disziplinen zu entwickeln. Diese vom preußischen Staat im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen eingeleitete Veränderung war auch hier verbunden mit einer Professionalisierung der akademischen Berufe durch staatliche Alimentierung. „Die Universität stand damals am Beginn einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Disziplinen, die die übergreifenden Konzepte (Naturkunde, Staatswissenschaften, historisch-philologische Geisteswissenschaften) durch Spezialisierung und methodische Vertiefung ablösten.“ (Ette, 2018))
1827, als Humboldt endgültig nach Berlin zurückkehrte, war dieser Prozeß bereits im Gange. Er trat eine Stellung „als dienstthuender Kammerherr“ bei Friedrich Wilhelm III an. Dazu war er aus finanziellen Gründen gezwungen, da ihn die Herausgabe des Reisewerks die letzten Mittel gekostet hatten. Seine Aufgabe bestand darin dem König neben einem gebildeten Gesprächspartner als Gutachter in Wissenschafts- und Kunstangelegenheiten zu dienen. Diese Position sicherte ihm eine ausreichende geistige Unabhängigkeit. Während ihm seine Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften die Berechtigung verschaffte, Vorlesungen an der Berliner Universität zu halten. Seinem aus Pariser Tagen Vertrauten Kunth sicherte er dort eine Professur für Botanik, strebte selbst aber nie einen Lehrstuhl an. Hätte dies doch eine Einordnung in den akademischen Fächerkanon erfordert. Das widersprach nicht nur Humboldts wissenschaftlichen Ambitionen, sondern insbesondere der traditionellen Auffassung einer umfassenden beschreibenden Naturgeschichte, die noch während seiner eigenen Studienzeit das herrschende Paradigma darstellte. Zunehmend wurde während dieser Zeit in der Habilitation, der Voraussetzung zur „venia legendi“, die Arbeit an einer speziellen Einzelfrage wichtig.
Humboldts Schwierigkeiten mit einer sich immer mehr spezialisierenden Wissenschaftslandschaft und deren Konsequenzen ist deutlich aus seiner vielgerühmten Eröffnungsrede von 1828 als Präsident der Berliner Versammlung der „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ herauszuhören

„Die Gründer dieser Gesellschaft haben, in wahrem und tiefem Gefühle der Einheit der Natur, alle Zweige des physikalischen Wissens (des beschreibenden, messenden und experimentirenden) innigst miteinander vereinigt. …So wichtig es ist, nicht das Band zu lösen, welches die gleichmässige Erforschung der organischen und unorganischen Natur umfasst, so werden dennoch der zunehmende Umfang und die allmähliche Entwickelung dieses Instituts die Nothwendigkeit fühlen lassen, ausser den gemeinschaftlichen öffentlichen Versammlungen, denen diese Halle bestimmt ist, auch sectionsweise ausfühlichere Vorträge über einzelne Disciplinen zu halten. Nur in solchen engern Kreisen, nur unter Männern, welche Gleichheit der Studien zueinander hinzieht, sind mündliche Discussionen möglich. Ohne diese Art der Erörterung, ohne Ansicht der gesammelten, oft schwer zubestimmenden und darum streitigen Naturkörper, würde der freimüthige Verkehr wahrheitsuchender Männer eines belebenden Princips beraubt sein.“ (Bruhns, 1872) Verwurzelt in einer alle drei Naturreiche verbindenden Auffassung der deskriptiven Naturgeschichte und verpflichtet dem eigenen Programm ganzheitlichen Naturverständnisses war Humboldt in einer Zeit zunehmender Spezialisierung der Naturwissenschaften bemüht wenigstens im Rahmen einer übergreifenden Naturforschenden Gesellschaft die Vorstellung eines Ganzen zu bewahren. Diese Einheit läßt sich jedoch nunmehr nur noch in einem gemeinsamen Dialog der Wissenschaftler herstellen.

Wie aus dem Vorherigen deutlich geworden ist, war Alexander von Humboldt eher ein Mann des traditionellen „noch immer“ als eines vorauseilenden „bereits schon“. Dieses Urteil soll jedoch seine wissenschaftlichen Leistungen in keiner Hinsicht schmälern ihm aber den angemessenen Platz in der Wissenschaftsgeschichte sichern. Es bleibt sein Verdienst uns an die Einheit der Natur gemahnt zu haben.

Verwendete Literatur (Auswahl)
o. Verf., 1774. Plan von der ökonomischen und Kameralschule…, Kurfürstl. Hof- und Akademie Buchdruckerey: Mannheim
Bayerl Günter und Jürgen Beckmann, Hrsg., 1999. Johann Beckmann (1739 – 1811). Waxmann: Münster/New York/München/Berlin
Böhme, Hartmut, 1988. Natur und Subjekt. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main
Bruhns, Karl, 1872. Alexander von Humboldt Bde. 1-3. F. A. Brockhaus: Leipzig
Ette, Ottmar Hrsg., 2018. Alexander von Humboldt – Handbuch. J.B. Metzler: Stuttgart
Stichweh, Rudolf, 1977. Ausdifferenzierung der Wissenschaft – Eine Analyse am deutschen Beispiel (Report Wissenschaftsforschung Nr. 8) Bielefeld
Wagner, R. E., 2012. The Cameralists: Fertile Sources for a New Science of Public Finance. In: J. G. Backhaus, Hrsg. Handbook of the History of Economic Thought. Springer: New York Dordrecht Heidelberg London

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